- Wenn in Sibirien der sprichwörtliche Baum umfällt und niemand sieht zu, ist dieses Geschehen dann Teil unserer Wirklichkeit?
Das Geschehen an sich kann durchaus real sein. Das Umfallen des Baumes produziert z. B. ein Geräusch, bricht Äste anderer Bäume ab oder schafft andere Lichtverhältnisse im Wald. Nur falls niemand da ist, der den umfallenden Baum sehen oder diese Geräusche hören kann, ist dieses Geschehnis kein Teil der (unserer) Wirklichkeit.
- Wenn es unwiderlegbare Beweise dafür gibt, dass sich die Erde um die Sonne dreht, wieso ist diese Tatsache dann gebunden an unsere Interpretation? Denn für jedes Lebewesen ist diese Tatsache doch gleich, ob es davon weiß oder nicht.
Auch wenn die Tatsache, dass sich die Erde um die Sonne dreht, durch unsere physikalischen Formeln und Experimente erfasst wurde, bleibt es unsere Interpretation der Welt. Dies trifft auch dann zu, wenn diese Formeln für uns allgemeine Gesetze darstellen. Selbst die Tatsache, dass dies für jedes Lebewesen gleich ist, ist unsere Beobachtung. In der Vorstellung der Beobachterabhängigkeit der Erkenntnis ist die Welt Produkt unserer Beobachtung und es führt kein Weg hinter diese Beobachtung zurück. Denn wir wissen nur, dass wir uns in der Welt, so wie sie uns erscheint, zurechtfinden, aber nicht, wie sie für sich selbst beschaffen ist. Auch die moderne Physik baut heute auf der Beobachterabhängigkeit der Erkenntnis auf. „Nach der Interpretation von Werner Heisenberg, einem der Pioniere der Quantenmechanik, sind Dinge erst dann real, wenn sie beobachtet werden. Er hielt es für nicht mehr möglich, zur Vorstellung einer objektiven realen Welt zurückzukehren, deren kleinste Teile in der gleichen Weise objektiv existieren wie Steine oder Bäume, gleichgültig, ob wir sie beobachten oder nicht‘“ (Ananthaswamy, Anil (2018): „Was verrät die Quantentheorie über die Realität?“ In: Spektrum der Wissenschaft, am 26.09.2018 (letzter Aufruf am 28.11.2020)).
- Welchen Aspekt ergänzt die Soziologie in Bezug auf die anderen hier vorgestellten Ansätze der Erkenntnistheorie?
Dass wir uns in der Welt zurechtfinden, liegt gemäß der in diesem Buch vorgestellten soziologischen Perspektive auch daran, dass wir interaktiv Wissen und Bedeutungen generieren, welche dann bereits unseren ersten Schritten ins Leben selbstverständlich zugrunde gelegt werden. Die Lebenswelt, die wir erschaffen, reproduzieren und an der wir uns orientieren, besteht auch aus einen kollektiven Wissensvorrat, auf dem unsere alltägliche Lebenspraxis selbstverständlich beruht. Dieser Vorrat an praktischem Wissen ermöglicht uns die aktive Teilnahme am Alltag, ohne dass wir über dessen Parameter groß nachdenken müssen. Dieser geteilte Wissensvorrat wird im Laufe unserer Sozialisation erworben und kollektiv im historischen Wandel der Kulturen verändert.